zelzius

Archive for the ‘Gesundheitssystem’ Category

Gerechtigkeit statt Gemüse

In Gesundheit ohne Gewicht, Gesundheitssystem, Public Health on April 20, 2013 at 10:58 am

liesbedda-slash-photocasecom

In der Regel sieht die Richtung von Empfehlungen für gesundheitsrelevantes Verhalten so aus: Das Verhalten unterer sozialer Schichten soll sich dem Verhalten oberer sozialer Schichten angleichen. Esst gesünder und bewegt euch mehr. Warum gehen Empfehlungen kaum den umgekehrten Weg? So ist bekannt, dass der Austausch mit Freunden und die Unterstützung von Bedürftigen gesundheitsfördernd wirken. Menschen aus privilegierter Schicht verbringen jedoch weniger Zeit mit anderen, spenden prozentual weniger Geld und opfern weniger Zeit für Bedürftige (etwa demenzkranke Angehörige) als weniger privilegierte Menschen (Ein Grund dafür ist, das Reichtum mit weniger Empathie einher geht). Trotzdem erscheint nicht jeden zweiten Tag in der Zeitung ein Aufruf: Besucht eure Nachbarn und kümmert euch um den Opa – das schütz euer Herz und sorgt dafür, dass ihr länger lebt. Dabei ist der Benefit eines geselligen Lebens ebenso groß wie der des Nicht-Rauchens. Hinzu kommt: Die Empfehlung „esst gesünder und bewegt euch mehr“ führt ja zu nichts. Außer Frustration und dem Schuldgefühl, versagt zu haben. Das Gefühl hält vielleicht davon ab, auf ein anderes Gefühl zu kommen. Zu Donut und Kippe greift vor allem der, der unter Stress leidet. Armut und damit verbunden Ausgrenzung und Diskriminierung führen zu Stress. Der beste Weg weg von der Kippe wäre weniger Stress, wäre weniger Armut. Da Armut ein relativer Begriff ist, geht es im Grunde um Gerechtigkeit. So und hier sind wir bei meinem Lieblingsthema. Nicht Gemüse und Joggen macht alle Menschen in unserer Gesellschaft gesünder. Mehr Gerechtigkeit macht sie gesünder. Das gehört eigentlich jeden zweiten Tag auf die Gesundheitsseiten der Zeitungen. (Wie bin ich da nun draufgekommen. Ach ja: Daphne Hahn
Prinzip Selbstverantwortung? Eine Gesundheit für alle? Verschiebungen in der Verantwortung für Gesundheit im Kontext sozialer Differenzierungen; JKMG.de; Band 46: http://www.jkmg.de/

Foto: liesbedda / photocase.com

Ihr müsst euch ändern

In Gesundheitssystem, Public Health on Februar 6, 2013 at 3:44 pm

vcm_s_kf_repr_800x535

In der Öffentlichkeit gibt es zwei Standpunkte zum Thema wissenschaftliche Forschung. Einmal: Trau keinen Studien, die Forscher tricksen bei der Statistik und finden doch nur, was sie finden wollen. Oder: Ich vertraue den Ergebnissen der neuesten Forschung. Die Studien sind von Experten gemacht und werden von Kollegen begutachtet. Das muss ja stimmen. Beide Standpunkte sind falsch und nicht nur das, sie sind auch gefährlich. Die Wissenschaftskritiker – und davon gibt es viele – setzen sich in der Regel nicht ernsthaft mit aktueller Forschung und ihren Methoden auseinander. Kein Problem. Muss man ja auch nicht.

Die Konsequenz: Man geht gern zum Quacksalber und schickt auch Freunde und Verwandte dorthin. Das wäre auch nicht schlimm. Osteopathen, Homöopathen und Co. – was Böses werden sie nicht anrichten. Doch, sie richten Böses an. Allerdings nicht auf der individuellen Ebene. Aber gesamtgesellschaftlich. Denn auf ihre Konten fließt – für in der Regel unbewiesene oder als unnütz erwiesene Therapien – viel Geld, das dem Gesundheitssystem fehlt. Es gibt sozusagen ein Leck. Ein Quacksalberleck. Ein extremes Beispiel. Michael P. ist 35 Jahre und leidet unter Schizophrenie. Er ist arbeitslos, übergewichtig, hat Diabetes und schafft es nicht, zum Arzt zu gehen. Plätze beim Psychiater sind rar, auf Therapie oder Klinikplätze muss man lange warten, einen Casemanager, der Michael P. zuhause besuchen und ihn beim Hilfe holen unterstützen würde, gibt es nicht. Zu teuer.

Michala M. ist leitende Angestellte einer Bank, verheiratet, zwei Kinder. Sie leidet unter unerklärlichen akuten Rückenschmerzen. Sie besucht alle Ärzte, die ihr Leiden einordnen könnten, Hausarzt, Orthopäde, Neurologe. Sie fühlt sich bei keinem gut aufgehoben. Erst bei einem Osteopathen hat sie das Gefühl, dass ihr geholfen werden könnte. Sie zahlt einige Hundert Euro für eine Behandlung. Die Schmerzen verschwinden. Sehr wahrscheinlich hat ihr jedoch nicht der Osteopath, sondern die Zeit geholfen. Die meisten akuten Rückenschmerzen verschwinden innerhalb weniger Wochen von alleine. Stellen wir uns vor, Michaela M. hätte das Geld, statt es dem Osteopathen zu geben, dem Gesundheitssystem zugeführt – als soziale Geste. Denn an sich geht es Michaela M. gut. Sie hat ein Haus, eine Familie, Freunde und einen sicheren Job. Würde all das Geld, das die Deutschen in fragwürdige Behandlungen stecken ins Gesundheitssystem fließen, gäbe es vermutlich Casemanager für Miachael P., einen Menschen, dessen schwere Erkrankung ihm das Leben zur Hölle machen kann. Der Casemanager würde Michael P. zuhause besuchen und ihn mitnehmen zu einem Arzt. Michael P. würde Ansprache, Zuwendung, Medikamente, vielleicht einen Therapie- oder Klinikplatz erhalten und seine Leiden könnten gelindert werden.

Nur so ist es nicht. Es ist umgekehrt und im Grunde unerträglich, dass es hingenommen wird: Je schwerer krank ein Mensch ist, desto schwieriger wird es für ihn, an die Ressourcen des Gesundheitssystems zu gelangen. Je leichter krank ein Mensch ist, desto mehr profitiert er von den Vorzügen des Systems. Wer stellt sich auf die Seite der Siechen, Leidenden, Schwachen, Sterbenden? Sicher, da gibt es Menschen. Aber dazu gehören nicht unbedingt die Ärzte (lieber einen adretten Neurotiker im Wartezimmer als einen Menschen mit Schizophrenie). Die Pharmaindustrie schon dreimal nicht.

Wie kann Forschung das ändern? Indem sie Quacksalbern – und dazu zählen nicht nur Osteo-, Homöopathen und Co., sondern auch stinknormale Pharmahersteller und Mediziner auf die Finger guckt. Ihnen vorschreibt, wie gute Forschung funktioniert (an die Kritiker: Ja, das kann man mit bestmöglicher Wahrscheinlichkeit angeben). Wie man Daten erhebt und sie vorsichtig und kritisch interpretiert. Wie man daraus Schlüsse zieht. Wie man darüber berichtet, wie die Medien darüber berichten, damit es zu keiner Verzerrung kommt. Diese validen Ergebnisse, und sie sind richtig rar, sollten dazu herangezogen werden, zu entscheiden, was das System bezahlt und was nicht. Richtig umgesetzt würden wahrscheinlich 50 Prozent der Medikamente herausfliegen.

Dann wird ein Haufen Geld frei und  – ebenso wichtig – Gedankenkraft. Anstatt dass sich Hunderte von Forschern daran ergehen, welche Genvariation das Risiko für ADHS/Diabetes you name it um ein Hundertstel erhöhen könnte, könnten sie sich damit beschäftigen, welche Rolle die Umwelt spielt und – am wichtigsten – wie man an der Umwelt etwas beeinflussen kann (an den Genen ist das nämlich nicht so leicht), damit die Krankheiten nicht mehr so häufig auftreten. Da wird kaum eine müde Mark reingesetzt.
Jetzt kommen wir zurück zu den beiden Standpunkten. Der zweite gefährliche Standpunkt: Die Forschung berichtet gesicherte Erkenntnisse, wir können ihr vertrauen. Nein, kann man nicht. Klinische Forschung liegt überwiegend (das war mal anders) in der Hand der Pharmaindustrie. Die Studienergebnisse belegen – wir wissen es alle – in der Regel den Nutzen des Herstellerpräparats. Davon kann sich niemand ausnehmen, auch kein biodynamischer Misteltrunkhersteller.

Naja, gibt ja noch ein paar Studien aus der Hand unabhängiger Forscher. Ja, von denen halte ich aus persönlichen Gründen viel. Aber auch die sind nicht unabhängig, sondern möchten ihren Ruhm mehren. Der mehrt sich, wenn man eher positive als negative Ergebnisse veröffentlicht, wenn man darauf hinweist, dass das Ergebnis zu einer neuen Therapie führen wird (sorry, der größte Teil der vorklinischen Studienergebnisse führen niemals in die Klinik) und wenn man das herausfindet, was in der wissenschaftlichen und der anderen Gesellschaft gerade in ist: Im Moment zum Beispiel SNIPS, also Genvariationen, die an der Krankheitsentstehung beteiligt sein sollen oder, noch cooler, epigenetische Veränderungen mit Krankheitsbezug. Dazu braucht man auch noch – ouuu – große, coole teure Technik. Dann wird ein bisschen im Summary frisiert und schon landet es völlig überzogen bei uns – also den Medizinjournalisten, die sofort alles noch weiter aufplustern (ich nehm mich da nicht aus, aber gelobe Besserung).

Vollkommene Unabhängigkeit gibt’s nicht, klar. Aber man kann nah dran. Und vor allem, noch näher dran wie im Moment. Dazu muss man, also die Gesellschaft, den Menschen Forschung näher bringen, zeigen, dass sie glaubwürdig sein kann und: Man muss Forschung glaubwürdiger machen. Das heißt, ein paar Spielregeln ändern: 1. Kack auf die Impact-Faktoren, die Forscher sammeln müssen, um nach oben zu kommen. Verführt nur zu Aufgeplustere von kurzlebigen Studienergebnissen (einen Darwin bekommt man so jedenfalls nicht). Und nehmt der Pharma-Industrie mal die Arbeit ab. Die Akademia forscht sowieso besser und günstiger (all die Doktoranden, die da für einen Snickers und eine Cola ihre Wochenenden vor dem Reagenzglas verbraten).

Man gründe also ein Nationales Translationales Forschungszentrum Deutschland und stecke die ganzen an-Quacksalberhonoraren-und-an-nutzlosen-Medikamenten-gesparte Millionen da rein und kümmere sich mal um wichtige Fragen. Zum Beispiel: Wie muss ich das Umfeld verändern, damit Menschen erst gar nicht an Diabetes erkranken? Helfen zum Beispiel mehr Fahrradwege und gratis Schulobst? Damit ist der Forscherzunft nicht unbedingt ein Blumenpott bzw. eine Professur zu gewinnen. Sollte aber.
Und wie komme ich auf all das, obwohl ich doch gerade arbeiten sollte? Hierüber: DeMets DL. Califf R; A Historical Perspective on Clinical trials Innovation and Leadership: Where have the Academics gone? JAMA, Feb 16, 2011 – Vol 305, No 7 & Misrepresentation of Neuroscience Data Might Give Rise to Misleading Conclusions in the Media, Gonon et a, Plos one 2011, Vol 6, Issue 1.
Ach ja und das hier: http://www.reuters.com/article/2011/02/09/us-gold-standard-idUSTRE71872Y20110209

Foto: photocase/iotas